Die Pandemie und die Linke
(Thesenpapier)

Das Thema unserer Veranstaltung lautet „Die Linke und die Pandemie“. Wir werden also nicht darum herumkommen, uns auch mit der Pandemie zu beschäftigen. Wir müssen verstehen, worin die besondere Qualität dieser Doppel-Krise besteht. Dafür müssen wir nicht zu Gesundheitsexperten werden, aber ganz ohne dem geht es nicht.

In kaum einem anderen Land versterben momentan so viele Menschen mit und an Corona wie in Deutschland. Die Dynamik der Sterberate ist seit dem 1. November 2020 in Deutschland eine der höchsten weltweit. Am 01.11.2020 waren es 125 Menschen auf 1 Million Einwohner, die mit oder an Corona gestorben waren. Inzwischen sind es 730. Also insgesamt über 60.000 Menschen. Ist das – abseits eines Impfstoffes – unumgänglich? Kuba beklagt auf 1 Million Einwohner 19 Gestorbene. In China sind es 3. In Taiwan 0,3. In Neuseeland und in Singapur 5. In Japan, wo es nie einen Lockdown gab, sind es 47. In Deutschland 730. Wie kommt es, dass von den 15 Ländern, die im Verhältnis zur Einwohnerzahl weltweit die höchsten Todeszahlen aufweisen, alle aus Europa oder den USA kommen?

Dazu einige Thesen:

1.
In den Ländern des westlichen Kapitalismus gibt es keine Strategie dafür, wie die aus dem Virus-Geschehen resultierenden gesundheitlichen Gefahren effektiv, also nachhaltig, einzudämmen und zu neutralisieren sind. Es ging immer nur darum das Geschehen beherrschbar zu halten, also so, dass zwar einerseits das Gesundheitssystem nicht zusammenbricht, es also gesellschaftlich zu keinen Erschütterungen kommt, wie andererseits darum die Profitwirtschaft des Großkapitals am Laufen zu halten.

2.
In der öffentliche Debatte wird daher zunehmend auf Länder in Asien und im pazifischen Raum verwiesen, die erheblich weniger Sterbende bilanzieren. Machen wir uns nichts vor: auch deren Strategien beruhen auf einer Abwägung politischer und ökonomischer Interessen – ich komme darauf noch zu sprechen. Von einer einheitlichen Linie kann man deshalb auch dort nicht sprechen. Trotzdem ist sehr offensichtlich, dass der dortige Umgang mit dem Virus in zwei Punkten konsistenter ist:

– Erstens: Strikte Nachverfolgung von Infektionsquellen, mit dem Ziel diese zu neutralisieren. Das hat es in Deutschland nie in ausreichender Weise gegeben. Die Gesundheitsämter sind dafür bis heute weder personell noch technisch ausgestattet. Was in der öffentlichen Debatte zudem und zurecht bemerkt wird, ist, dass es auch sonst hierzulande nur sehr wenig qualifizierte Analyse zum Infektionsgeschehen gibt. Das ginge auch jetzt mit hohen Inzidenzzahlen (Berufsgruppen, Branchen usw. usf.)

– Zweitens: Alle diese Länder – auch Kuba – haben seit Beginn der Pandemie auf Grenzkontrollen gesetzt. Das mag im Rahmen eines linken Dialogs anstößig klingen, aber bei allem Internationalismus sollten wir uns diesbezüglich an die Sätze von Karl Marx im Kapital erinnern, als dieser den Welthandel untersuchte. Grenzen können im Kapitalismus auch eine schützende Wirkung entfalten. Wir haben es in unterschiedlichen Regionen dieser Welt mit unterschiedlichen Durchschnittsbedingungen der kapitalistischen Produktion zu tun. Grenzen können den sonst ungezügelten Welthandel brechen. Zum Beispiel durch Zölle, ein anderes Währungssystem und ähnliches mehr. Ja sie sind, unter kapitalistischen Bedingungen, sogar eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür, dass sich ein rückständiges Land in der Konkurrenz zu den mächtigen selbst entwickeln kann. Kolonien und Freihandelszonen verfolgen indes das Ziel diesen Schutz zu durchbrechen.

Die Analogie ist klar: Wenn es Ländern gelingt mit besonderen Maßnahmen eine Pandemie einzuschränken, macht es keinen Sinn, wenn dieser Fortschritt durch fehlende Tests an den Grenzen, Einreisebeschränkungen usw., wieder aufgehoben wird.

Gerade die deutsche Kapitalisten sind auf Grund ihrer einseitigen Exportorientierung aber darauf angewiesen nicht nur Warenexporte, sondern auch den Import von Vorprodukten für die eigenen Wertschöpfungsketten, wie auch von Billiglohnkräften, permanent aufrecht zu erhalten. Grenzkontrollen – noch dazu innerhalb der EU – sind daher nicht in ihrem Sinne. Deshalb gibt es auch keine.

Wir hatten dies schon im Zusammenhang mit dem Leitantrag unseres Parteitages in Hamburg diskutiert: Der Virus ist ein natürliches Phänomen, aber die Pandemie hat etwas mit der kapitalistischen Produktionsweise zu tun. Auch mit der ökologisch ja vollkommen widersinnigen Globalisierung von Produktions-, Absatz- und Arbeitsmärkten, die ideologisch zum Sachzwang umgedeutet wird.

3.
Inwieweit Pandemien zu einer tödlichen Gefahr werden, hat darüber hinaus viele Gründe: Beispielsweise die Art und Weise wie Menschen in einem Land leben und arbeiten. Es gibt Länder, in denen die Zustände das Immunsystem stärker schwächen, als in anderen Ländern. Nicht zuletzt gibt es natürliche Faktoren, wie unterschiedliche Klimazonen. Auf Klimazonen haben wir keinen (gesunden) Einfluss, wohl aber auf die Gestaltung unseres Lebens. Um gesünder zu leben, reicht aber kein einzelner Kraftakt, sondern nur das Bemühen um dauerhaft gute Arbeits- und Lebensbedingungen. Die Vorstellung, dass Viren durch einzelne Maßnahmen wieder verschwinden, ist ein Irrtum. Denken wir zurück an den HIV-Virus. Dieser, wie auch die Malaria oder die Tuberkulose, verloren nicht durch einen einmaligen Kraftakt ihren Schrecken, sondern nur durch ein stetiges Bemühen für ein gesünderes Leben, ein gutes Gesundheitssystem und einen fürsorglichen Umgang mit Betroffenen. 1) Inwieweit Impfstoffe dabei helfen, wird sich zeigen.

4.
Ganz wesentlich für die Abwehr gesundheitlicher Gefahren, ist die Qualität des Gesundheitssystems. Ich mache es konkret: Selbst 2020 gab es in Deutschland einen Abbau von Betten in der Intensivmedizin. Auch 2020 wurden Krankenhäuser geschlossen und weitere Schließungspläne nicht korrigiert. Etliche Bestandteile unseres Gesundheitssystems sind privatisiert. Gesundheit ist eine Ware. Das System der so genannten Fallpauschalen behandelt Kranke wie Kostenträger. Die Zustände im Bereich der Pflege, also sowohl in den Krankenhäusern, wie in den Altenpflegeeinrichtungen, sind auf Grund eines eklatanten Personalmangels katastrophal. Und während der Eigentümer der Asklepios-Kliniken so viel Geld hat, dass er sich das Hotel Atlantik kaufen konnte, wird die Hamburger Betriebsrätin Romana, die öffentlich auf diese Missstände aufmerksam machte, entlassen.

In Hamburg sind nach Angaben des RKI über 1000 Menschen mit und an Corona gestorben. 90 Prozent von ihnen sind älter als 70 Jahre. Der größte Teil von ihnen oberhalb von 80 Jahren. Es ist ein Skandal, dass ein ökonomisch so starkes Land wie Deutschland, nicht dazu in der Lage sein will, ältere Menschen besser zu schützen und obwohl nicht Sozialwissenschaftler, sondern auch zahlreiche medizinische Fachverbände dafür immer wieder eine Reihe konkreter Forderungen benannt hatten. Forderungen, die nicht darauf hinauslaufen, die älteren Menschen einfach einzusperren.

5.
Es gibt Maßnahmen gegen Infektionsgefahren, die immer sinnvoll sind. Niemand von uns käme auf die Idee einen Grippe-Erkrankten mit einer Umarmung auf einer Versammlung zu begrüßen. Hygiene-Maßnahmen sind immer gut. Auch Mund-Nase-Bedeckungen können das Risiko verringern. Ob sie auch unter freiem Himmel eine Wirkung entfalten, ist indes umstritten. Letztendlich sind das alles Dinge, die der Menschheit seit Hunderten von Jahren bekannt sind. Dies in der heißen Phase einer Epidemie zu betonen, ist sinnvoll. Sinnvoll ist es auch, dass Großveranstaltungen in geschlossenen Räumen oder in den engen Varianten eines Fußballstadions in den Hochphasen solcher Pandemien nicht stattfinden.

6.
Gesundheitsschutz ist kein vorrangiges Ziel staatlichen Handelns in kapitalistischen Gesellschaften, die Förderung der Kapitalakkumulation und Wettbewerbsfähigkeit ist es schon. Trotzdem gibt es auch zum Gesundheitsschutz in den kapitalistischen Ländern unterschiedliche Philosophien, die einerseits auch damit zu tun haben, also mit ökonomischen Interessen, die sich in Zeit und Raum differenzieren, wie sie andererseits aber auch mit unterschiedlichen kulturellen Traditionen, politischen Bedingungen (auch Erfolgen progressiver Kräfte) zu tun haben. Nehmen wir beispielhaft Japan, wo einerseits aus verfassungsrechtlichen Gründen ein Lockdown gar nicht möglich ist, es andererseits aber auch ein anderes Wissen und andere Erfahrungen im Umgang mit solchen Viren gibt:

Die japanischen Virologen entwickelten schon im Februar 2020 andere Thesen, als in Deutschland und in Europa. Sie gingen davon aus, dass von 10 Infizierten maximal ein oder zwei Personen infektiös sind. Erinnern wir uns: in Deutschland galt lange die These, dass alle gleich infektiös sind. Das provoziert ein sehr unterschiedliches Vorgehen im engeren Bereich der Bekämpfung eines solchen Virus. Denn während die japanischen Gesundheitsämter retrospektiv nach der Quelle eines Infektionsherdes suchten, und darauf ihre Kräfte konzentrierten, dafür qualitative Kriterien entwickelten, galt in Deutschland sofort der Ruf: alle Infizierten – auch unabhängig von ihrer Virenlast – sind giftige Schlangen, die isoliert gehören. Ct-Werte, die die Virenlast messen, wurden nie analysiert. Entsprechend auch die Logik in der Einschränkung soziale Kontakte. Schulen und Freizeiteinrichtungen mussten schließen. In Japan wurde per Auflage kaum etwas geschlossen. Alle Kraft wurde darauf konzentriert Infektionsquellen präzise festzustellen; und weshalb auch Tests nicht massenhaft, sondern zielgenau erfolgten. Alles andere erfolgte freiwillig.

Erinnern wir uns an den Beginn der Pandemie, wie die japanische Politik gerade dafür in deutschen Medien mit heftiger Kritik überzogen wurde: die machen ja nichts und nur deshalb nicht, um ihre Olympiade zu retten. Tatsächlich aber machten sie eine ganze Menge, nur eben vollkommen anders, als in Deutschland oder in Europa. Der dazu hier in der Fußnote vernetzte Artikel ist hochinteressant. 2)

 
7.
Das obige Beispiel mag genügen, um an Aussagen der Kritischen Theorie zu erinnern. Auch Naturwissenschaftler sind nicht frei von ideologischen Einflüssen, wie sie sich aus unterschiedlichen kulturellen, ökonomischen, politischen, historischen Rahmenbedingungen ergeben.

8.
Uns alle bewegt der Lockdown. Halten wir dazu fest: Es gibt Länder, die einen richtig scharfen Lockdown hatten, wie Peru, und trotzdem ein sehr intensives Infektionsgeschehen aufwiesen, und es gibt Länder, wie etwa Japan oder Taiwan, wo es überhaupt keinen Lockdown gab, sich das Infektionsgeschehen aber in Grenzen hielt.

Was ist die Idee eines Lockdowns? Die Idee eines Lockdowns besteht darin Kontakte zu reduzieren. Ein Lockdown, so sagen uns Virologen, scheint vor allem dann angebracht zu sein, wenn Politik versagte, sich der Virus also bereits stark ausbreiten konnte.

Wenn es aber einen Lockdown gibt, dann macht dieser doch vor allem dann einen Sinn, wenn er als erstes – oder mindestens gleichzeitig – auch jenen Bereich einschließt, wo wir den längsten Teil des Tages verbringen. Also die Arbeit. Das war in jenen chinesischen Provinzen, wo es einen Lockdown gab, der Fall. Auch in Neuseeland. Da dauerte so ein „Shutdown“ dann vier bis fünf Wochen und anschließend galt der Virus als besiegt.

In Deutschland war das indes nie der Fall. Ob daher die hiesige Variante eines Lockdown im letzten Frühling tatsächlich eine wichtige Bedeutung im Rückgang der Zahl der Infizierten spielte, ob es heute so ist, war und ist daher auch unter Virologen umstritten.

9.
Jede Variante eines Lockdown – also ob er nützlich ist oder auch nicht – bedeutet auf jeden Fall immer (!): Umverteilung von gesellschaftlichen Reichtum von unten nach oben. Also die Beförderung von Vermögens- und Kapitalkonzentration, soziale Verwerfung und Enteignung. Es müsste mindestens (!) kubanische Verhältnisse geben, um das auszuschließen. Denn der soziale und ökonomische Effekt ist mit dem einer kapitalistischen Wirtschaftskrise vergleichbar: Ein Mangel an Nachfrage, auch das zeitweilige Verbot bestimmter Dienstleistungen, befördert die Vernichtung von Kapital. Diese Wirkung tritt vor allem bei kleinen und mittelständischen Unternehmen auf. Die Erwerbslosigkeit steigt. Gleichzeitig werden die Superreichen noch reicher. Neben den Großunternehmen und Konzernen, zählen vor allem Hedge-Fonds und private Banken zu den Profiteuren eines Lockdowns 3).

Da fängt meine Kritik am Zero-Covid 4) Aufruf an. Einen „Solidarischen Lockdown“ kann es nicht geben. Genauso wenig wie es eine „Solidarische kapitalistische Wirtschaftskrise“ geben kann. Man kann versuchen sich im Lockdown solidarisch zu verhalten. Aber der Lockdown selbst ist nie solidarisch, sondern er ist immer einseitig. Als Linke versuchen wir Forderungen durchzusetzen, die das abfedern, also voraus gesetzt wir sind stark genug. Steuererhöhungen und Sonderabgaben taugen dafür nur sehr bedingt, was freilich ein eigenes Thema wäre. Aber beseitigen und neutralisieren können sie diese ökonomische und soziale Wirkung nicht.

 
10.
Jeder Lockdown führt zu einer massiven Einschränkung, wenn nicht sogar zu einer zeitweiligen Beseitigung von Grund- und Freiheitsrechten. Ich muss das hier nicht weiter ausführen, weil es vielfach bereits erörtert wurde. 5) Es ist doch aber eine Illusion davon auszugehen, dass das große Kapital und seine politischen Sachverwalter dann anschließend wieder freiwillig alles auf den Status Quo zurückfahren werden. Also so etwas hat es jedenfalls in der Geschichte bisher nie gegeben. Alex Demirovic von der Rosa-Luxemburg-Stiftung wirft in seiner Kritik daher zurecht die Frage auf, von wem denn im Zweifel ein noch härterer Lockdown, wie von den Zero-Covid-Initiatoren vorgeschlagen, durchgesetzt werden soll: „Die Konsequenz, dass der Staat zu stärkeren polizeilichen Maßnahmen greifen müsste, wird nicht ausgesprochen. Sollen die Polizei und Security-Dienste verstärkt werden? Soll es Internierungen in Quarantäne-Lager geben? Der Aufruf wendet sich offensichtlich an den Staat. Aber dieser Staat sollte nicht in seiner autoritären Tendenz verstärkt werden.“ 6)

Ein Rückgriff nur auf Naturgesetze in politischen Debatten ist immer gefährlich. Wir werden das auch noch im Zusammenhang mit der „Klimakrise“ bemerken. Eine solche Unterwerfungshaltung dürfen wir nicht einüben.

11.
Der Zero-Covid Aufruf, der auch von zahlreichen Linken unterschrieben wurde, geht in einigen Dingen in die richtige Richtung. Also wenn er beispielsweise fordert: „kein kontrolliertes Weiterlaufen der Pandemie“ – also im Sinne der westeuropäischen oder deutschen Inzidenz-Deutungen. Es ist auch richtig, dass wenn es einen Lockdown geben soll, dafür der Bereich der Arbeit in den Großunternehmen gleich am Anfang mit einbezogen sein sollte. Das finde ich sehr sympathisch. Aber kommt dieser Aufruf zum richtigen Zeitpunkt? Und berücksichtigt er die dafür zwingend notwendigen Nebenbedingungen in ausreichender Weise?

Der Aufruf verbreitet jedenfalls Illusionen, wenn er eine „gemeinsame Strategie in Europa“ fordert. 7) Jeder weiß: so etwas wird es auf Grund der sehr unterschiedlichen Interessen, nicht geben. Und schon gar nicht kurzfristig. Der Aufruf bleibt unzulänglich in der Frage der Nachverfolgung von Infektionsquellen, was aber nicht nur eine quantitative, sondern auch eine qualitative Frage ist: Wie und in welche Richtung soll es diese geben? Da liegt doch aber im Zweifel der Hund begraben! Der Aufruf bleibt illusionär, wenn er die Frage der Produktionseinschränkungen von Aushandlungsaktionen in einzelnen Betrieben abhängig machen möchte. Offenbar unterstellen die Initiatoren gleiche Macht zwischen Kapital und Arbeit. Vor allem beantwortet der Aufruf aber in keiner Weise, wie denn verhindert werden kann, dass die Kosten eines solchen verschärften Lockdowns anschließend nur durch die Arbeiterklasse beglichen werden müssen. Denn die Instrumente, die er diesbezüglich aufführt, also Steuererhöhungen und Sonderabgaben, können diesen Effekt nicht mal ansatzweise ausgleichen. Zu befürchten ist zudem, dass Kapital und Kabinett solche Aufrufe gezielt missinterpretieren, Verschärfungen also nur im Bereich der Grundrechte suchen werden, nicht aber im Bereich der Arbeit, wo selbst in den Home-Office-Regelungen ja so viele Ausnahmen eingestrickt sind, dass sie das eigentliche Regelwerk fast schon in den Schatten stellen.

 
Der Zero Covid Aufruf möchte eine mathematische Gleichung aufmachen: Je weniger Kontakte es gibt, um so wirksamer wäre der gesundheitliche Schutz. Aber diese Gleichung hat mehrere Variable bzw. Unbekannte, für die es strenge Nebenbedingungen geben muss, denn sonst wird die Gleichung nicht aufgehen: Zum Beispiel die Frage der Grenzkontrollen. Zum Beispiel die Frage der Nachverfolgung von Infektionsquellen. Und auch: wie denn soziale und politische Gefahren einzugrenzen sind. Zeit, Ort und Rahmenbedingungen werden nicht ausreichend berücksichtigt.

12.
Gesundheit sollte als ein Menschenrecht eingefordert werden. Sie kann aber ebenso als Rechtfertigung für staatliche Ermächtigungen nützlich sein. Als Instrument für einen Abbau von Grund- und Menschenrechten. Und sehen wir nicht genau dies auch in Europa: überall dort, wo neoliberaler Politik das Soziale besonders stark kaputtsparte, also wie etwa in Griechenland oder in Italien, bleibt in der Pandemie nur die Aufrüstung. An die Stelle der Veränderung der Gesellschaft tritt das Dispositiv der Sicherheit, in dem sich bürgerliche Staaten als die Lösung für jene Probleme verklären, die sie selbst geschaffen haben. Dazu gehört die Individualisierung gesellschaftlicher Probleme, die an die Stelle öffentlicher Verantwortlichkeit tritt. Das Recht auf eine öffentliche Gesundheitsversorgung wird sukzessive durch eine private Pflicht zur Gesundheitsvorsorge ersetzt, die polizeilich überwacht wird.

Welche gesellschaftliche Folgen das haben kann, darauf hat schon vor Jahren der französische Theoretiker Michel Foucault in vielen seiner Werke hingewiesen. Die Regierenden wollen Klassenwidersprüche verschleiern, um Kapitalinteressen durchzusetzen. Aber um dies zu bewerkstelligen sind sie darauf angewiesen sich als eine Macht im Dienste des Allgemeinen zu profilieren. Schon im Mittelalter boten Seuchen immer wieder eine gute Grundlage dafür repressive Momente zu stärken. Wie aktuell das nach wie vor ist, verdeutlichen uns die Autoren Mirko Broll und Mario Neumann am Beispiel von Griechenland in einem Beitrag für die Wochenzeitung „Freitag“ 8) .

 
13.
Mein Part ist es hier Aspekte der Pandemie zu besprechen, während ich den Bereich politischer Forderungen den Anschlussreferaten überlasse. Zur Analyse gehört es aber auch der Frage nachzugehen, warum sich das europäische und das deutsche Kapital und ihre politischen Sachverwalter in dieser Krise so verhalten, wie sie sich verhalten? Und warum sich andere kapitalistische Länder anders verhalten? Wie es für einen Sozialisten üblich ist, suche ich dafür vor allem ökonomische Gründe.

Im Vorbereitungsmaterial hieß es dazu: „Die Corona-Krise überschattet eine schwere Wirtschaftskrise. Deren Ursache besteht nicht in der Pandemie, sie wurde aber durch selbige beschleunigt und vertieft. Auch diese Wirtschaftskrise ist eine internationale Krise. Wie tief sie einzelne Länder und Regionen trifft, ist aber von unterschiedlichen Faktoren abhängig. (…) Beispielsweise auch (…) von Verschiebungen im globalen ökonomischen Kräfteverhältnis zwischen einzelnen Regionen und Ländern:

1995 lag der Anteil der 26 führenden kapitalistischen Länder an der weltweiten industriellen Wertschöpfung bei 83,8 Prozent. 2012 waren es nur noch 58 Prozent. Dazu gewonnen haben die Schwellenländer, darunter China. Ähnliche Verschiebungen ergeben sich für den Welthandel. Trotzdem sind die Schwellenländer nach wie vor sehr stark binnenmarktorientiert. Sie verfügen über dynamische Märkte, die sowohl einheimische, wie auch importierte Produkte massenhaft aufnehmen können. (…)“ 9)

 
Dazu kommt, dass in den führenden kapitalistischen Ländern des Westens der Anteil auch hochwertiger importierter Vorprodukte an den eigenen Wertschöpfungsketten immer größer wird. Das wiederum betrifft vor allem Großunternehmen aus dem verarbeitenden Gewerbe, die exportorientiert sind, während gleichzeitig ihre inländischen Stammwerke immer weniger in den Genuss von Modernisierungs- oder Ausbauinvestitionen kommen.

Ich erinnere daran: der Effekt jeder kapitalistischen Wirtschaftskrise besteht darin, dass Kapital vernichtet wird, es zu einer weiteren Kapitalkonzentration kommt und dann im Aufschwung wieder zu einer Zunahme realwirtschaftlicher Investitionen.

Nach der letzten Wirtschaftskrise 2009 ist letzteres aber weitgehend ausgeblieben. Gerade die Großunternehmen des verarbeitenden Gewerbes weisen daher in Deutschland eine teilweise veraltete Produktionstechnik auf. Um im kapitalistischen Konkurrenzkampf zu bestehen, muss die aktuelle Wirtschaftskrise in den Ländern des Westens daher so reguliert werden, dass Produktionskapazitäten modernisiert werden können, und obwohl immer mehr Kapital auf die spekulativen Finanzmärkte ausweicht. Corona bietet dafür eine gute Kulisse, um mit Subventionen, die sonst umstritten wären, einen solchen Modernisierungsschub für die exportorientierten Großunternehmen zu bewirken.

Gleichzeitig gelingt es in der Corona-Krise mit weniger gesellschaftlichen Widerstand die reproduktiven Kosten, samt der Lohnkosten, weiter zu reduzieren. Die Art und Weise, wie dies nun geschehen kann, sichert trotzdem politische Hegemonie. Vergleiche dazu die Arbeit von Thomas Sablowski aus der Rosa-Luxemburg Stiftung. 10)

 
Dies wiederum ist für China, auch für andere asiatische Länder, auch für Neuseeland, im Detail durchaus anders. Diese Länder verfügen zudem auch über stabilere Binnenmärkte. Ihr Anteil an importierten Vorprodukten für die eigenen Wertschöpfungsketten sinkt seit Jahren. Sie bewegen sich zunehmend auf einem hohen technischen Niveau ihrer Produktionskapazitäten und Produkte. Ihre Wirtschaftsdaten waren Ende 2019 meist deutlich bessere, als in den europäischen Ländern oder in den USA.

Jedenfalls sucht man Protestnoten aus dem BDI zur bisherigen deutschen Corona-Politik vergebens. Protestnoten findet man indes bei den Lobbyisten-Verbänden des kleineren und mittelständischen Kapitals, auch des Handelskapitals. Dass in der Folge dieses anderen Umgangs mit Corona nun in Europa mehr Menschen sterben, als in vergleichbaren asiatischen Ländern, führt aber kaum zu politischen Erschütterungen. So können die politischen Sachverwalter des großen Kapitals diese Corona-Krise dafür nutzten, die Regulierung dieser Wirtschaftskrise sehr punktgenau zu lenken.

14.
Auch deshalb bin ich dem ZeroCovid Aufruf kritisch gegenüber eingestellt, denn ich sehe keine ausreichend starken gesellschaftlichen Kräfte, die dazu fähig oder auch nur gewillt wären, einem nochmaligen Schub in Richtung von mehr Arbeitslosigkeit, Kapitalkonzentration und dem dann folgenden Abbau sozialer Leistungen relevant etwas entgegen zu setzen.

Unsere Forderungen sollten wir als LINKE daher eher darauf richten das Gesundheitssystem zu stärken, es mittelfristig zu rekommunalisieren, die Pflegeberufe aufzuwerten, den Schutz von Risikogruppen, eine bessere und effektivere Nachverfolgung von Infektionsquellen, auch besseren Gesundheitsschutz in den Firmen, durchzusetzen. Auch kleine und mittelständische Unternehmen zu unterstützen, in denen der überwiegende Teil der Lohnabhängigen beschäftigt sind. Sie sind sehr viel stärker binnenmarktorientiert. Ebenfalls: Verzicht auf Leistungsverdichtung und Überstunden. Mehr Beschäftigte einstellen. Bessere Schutzkleidung. Schnelltests. Kürzere Arbeitszeiten – das ist der Bereich in dem die LINKE gefordert ist. Kurzfristig geht es auch um Maßnahmen, die dem Recht auf Bildung wieder besser entsprechen. Die diesbezügliche Aktion unseres Landesprechers Keyvan Taheri war gut und richtig. Auch dieses Impfchaos sollten wir offensiv kritisieren. Und ab 2022 geht es dann verstärkt darum, mindestens teilweise zu verhindern, dass die Kosten dieser Doppelkrise einseitig nur auf die Arbeiterklasse abgewälzt werden, was nur gelingen wird, wenn wir dabei offensiv auf das Versagen dieses kapitalistischen Systems hinweisen.

(Andreas Grünwald / 05.02.2020)

Fußnoten:

 
1) Vergleiche dazu beispielsweise: „Debatte Corona besiegen?“ Medical International, Dr. Andreas Wulf:
https://www.medico.de/blog/corona-besiegen-18082
 
2) Zu den Unterschieden japanischer Clustertheorie vergleiche etwa diesen Artikel von Eva Wolfangel:
https://www.riffreporter.de/de/technik/rueckwaerts-zum-erfolg-in-der-pandemie-retrospektive-kontaktnachverfolgung
 
3) Vergleiche dazu zum Beispiel Christian Kreiß: „Vom Lockdown zum Ausverkauf des Mittelstandes“:
https://www.heise.de/tp/features/Vom-Lockdown-zum-Ausverkauf-des-Mittelstandes-5002052.html
 
4) Nachzulesen hier:
https://zero-covid.org/
 
 
6) Vergl. Alex Demirovic in „Über die Null hinausdenken. Zur Kritik des Aufrufes ZERO COVID“:
https://www.zeitschrift-luxemburg.de/ueber-die-null-hinaus-denken/
 
7) Vergl. dazu die Kritik von Andreas Wehr:
https://www.andreas-wehr.eu/die-eu-ist-nicht-die-loesung.html
 
8) Mirko Broll, Mario Neumann: Überall Polizei, nirgendwo Ärztinnen:
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/ueberall-polizei-nirgendwo-aerztinnen
 
 
10) Vergleiche dazu: Thomas Sablowski in „Der Klassencharakter der deutschen Politik in der Corona-Krise“:
https://www.zeitschrift-luxemburg.de/der-klassencharakter-der-deutschen-politik-in-der-coronakrise/