China ist anders

Von Heinz-Dieter Lechte

Den nachfolgenden Vortrag hielt der Autor auf unserer Diskussionsrunde zu China an 05. März 2021. Im Juni soll die Diskussion zu China fortgesetzt werden.

In den Medien trifft man auf eine Mischung aus Bewunderung, Neid und Angst, in der Politik auf Abwehr und Irritation wie mächtig China geworden ist. Und Linke fragen: Das soll Sozialismus sein?

Es gibt keinen Grund gegenüber China unkritisch zu sein, ebenso wenig sollten wir uns der Beschäftigung mit dem, was denn nun anders ist an der VR China, verschließen. Besserwisserisch anderen Ländern und Kulturen Noten zu geben sollten wir vermeiden. Wir sind weder Lehrer noch Zuschauer der Völker, sondern immer mitten auf der Bühne dabei mit unseren eignen Problemen, Interessen und Motivationen. Ich verbinde darum die Sicht auf China mit der Sicht auf unsere eigene Gesellschaft im Übergangsprozess.

Bis in das links-libertäre Milieu hinein lautet das gängige Vorurteil: hier im Westen Demokratie und Freiheit dort in China Diktatur und Einschränkung der Menschenrechte. Das sind Floskeln, Ideologische Allzweckwaffen, die keines Realitätsbezuges mehr bedürfen. Von welcher Freiheit ist die Rede? Von der Freiheit des Arbeitgebers Menschen zu entlassen? Von der Freiheit der Medienverleger? Von der Freiheit ohne soziale Gerechtigkeit?

Wenn von links apodiktisch festgehalten wird, in China hätte seit Staatsgründung nie die Arbeiterklasse geherrscht, und China könne schon deshalb nicht sozialistisch sein, weil es keine Rätedemokratie ist, geht das oft zusammen mit dem Glaubenssatz, Revolution in nur einem Land könne nicht funktionieren. Man sollte sich deshalb auch nicht der Hoffnung hingeben, dass der Aufstieg Chinas zu einer friedlicheren Weltordnung führt.

Westliche Linke, die ihren Marxismus nie durch die notwendige Umwandlung in eine Staatsideologie beschmutzen mussten, können stolz sein auf die Reinheit ihres Marxismus. Besser ist es aus der internationalen Geschichte der Arbeiterbewegung zu lernen, was in einem zweiten Anlauf zum Sozialismus auf uns zukommt, an Aufgaben und Abwehr der Gegenrevolution.

Sozialismus chinesischer Prägung. Was ist das?

Also fragen wir mit dem Blick nach vorne: Sozialismus chinesischer Prägung. Was ist das? Wie verbinden sich die Klassenunterschiede zwischen Arm und Reich mit Sozialismus? Wer vertritt im Klassenkampf die chinesische Arbeiterklasse? Welche Rolle spielt der Staat dabei? Produziert eine kapitalistische Produktionsweise nicht auch zwangsweise kapitalistisches Bewusstsein?

Ja, in China herrscht eine marxistische Partei, die im Land Kapitalismus duldet, um es mit der Nutzung dessen Dynamik zu entwickeln, als Basis für ein sozialistisches China. Aber kann das gut gehen?

1979 begann mit Deng Xiaoping die wirtschaftliche Liberalisierung Chinas. Gleichzeitig warnte er: „Wenn ihr vom Sozialismus abweicht, wird China unvermeidlich in den Halbfeudalismus und den Halbkolonialismus zurückfallen.“

Nach den vorlaufenden Opiumkriegen nahmen 1900 die USA, Japan, Russland, Deutschland, Österreich, Großbritannien und Italien den sogenannten Boxeraufstand zum Vorwand China endgültig zu kolonialisieren und zu demütigen. Das scheint in der chinesischen Gesellschaft im doppelten Sinne eine tiefverwurzelte geschichtliche Wahrheit zu sein, sich nie wieder demütigen lassen, aber auch die Überzeugung, dass die Kommunistische Partei der beste Garant dafür ist, dass dies nicht passiert.

Diese Verbindung zwischen dem Volk und der Kommunistischen Partei zieht sich auch als roter Faden durch die Erfahrungen von Wolfram Elsner in China. Diese enormen Entwicklungsleistungen, die er in China beobachtet, sind nicht gegen, sondern nur mit dem Volk möglich. Der Autor Wolfram Elsner sagt: Der Westen reagiert darauf mit Anerkennung, Lernen-wollen, Neid, Wutgeheul, aber eben auch aggressiv.

Seit 2012 ist XI Jinping, Generalsekretär der KP

Seit 2012 ist XI Jinping, Generalsekretär der KP, seit 2013 Staatspräsident. Er ist seit Deng Xiaoping der mit Abstand einflussreichste Führer der KP. Mit seinem Namen ist das Projekt der Neuen Seidenstraße* verbunden, mit ihm wuchs in China wieder die Bedeutung des Marxismus und das Studium der Klassiker. Das Projekt „One Belt. One Road“ bzw. „Belt and Road – Initiative“ (BRI) wurde 2013 von XI der staunenden Welt vorgestellt. Es dient der Erschießung der westlichen Provinzen China und der auf dem Weg nach Europa liegenden Ländern. Es nutzt vorhandene Infrastruktur, baut in den beteiligten Ländern neue Straßen, bevorzugt aber Bahnstrecken, entwickelt die Energieversorgung. „Ziel ist es, die Voraussetzungen für Wirtschaftswachstum in weniger entwickelten Ländern in diesen Regionen zu schaffen, neue Märkte zu erschließen und den wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Austausch zu verstärken“ (Handelskammer Hamburg) sagt der Klassenfeind und investiert.

Das chinesische Bruttosozialprodukt ist bereits heute größer als das amerikanische. Doch China beschreitet nicht den imperialistischen Weg der USA. China macht Hoffnung, dass es andere Wege als den imperialistischen US-amerikanischen gibt. Chinas Sicht auf die USA ist nicht der Blick auf einen Rivalen, den es zu vernichten gilt. China hält sich traditionell aus den inneren Angelegenheiten anderer Länder heraus. Anders die USA, die fürchten müssen ihre Rolle als selbsternannter Weltpolizist zu verlieren, und entsprechend militärische Präsenz demonstrieren.

Auch wenn China mittlerweile in der Summe die größte Volkswirtschaft weltweit ist, bezogen auf das BIP pro Kopf stand es 2019 auf Platz 69. Das weiß natürlich auch die Führung der KP. In diesem Sinne ist China einerseits noch ein Entwicklungsland, andererseits eines mit den schnellsten Zügen der Welt und der Entwicklung von intelligenten Straßen, ein technologisch hoch entwickelter Systemkonkurrent. China ist mit Riesenabstand vor allen anderen führend in der Produktion und im Nutzen von LKW‘s, die mit Batterien angetrieben werden. Gleichzeitig haben sie erkannt, dass diese Technologie nur eine Übergangslösung sein kann. Beim öffentlichen Verkehr setzt China auf Schienenverkehr und beim Individualverkehr auf Straßen, auf denen Fahrzeuge durch Induktionsstrom quasi von der Straße gezogen werden.

Was plant China?

Mit der Initiative „Made in China“ soll das Land 2025 weltweit führender Hersteller einiger Spitzentechnologien sein.

Bis 2035 soll die sozialistische Modernisierung abgeschlossen sein. Ein kaufkräftiger Binnenmarkt sorgt dann für eine nachhaltige und exportunabhängige Entwicklung.

Made in China wird von Created in China abgelöst. Die Einkommensverteilung zu mehr Gleichheit ist auf den Weg gebracht, aber noch nicht abgeschlossen.

2050: Die Renaissance Chinas ist abgeschlossen. China geht in den entwickelten Sozialismus über. Allgemeiner Wohlstand ist erreicht. China sieht sich als Hüter des Weltfriedens. Und strebt eine von der gesamten Menschheit getragene gemeinsame Entwicklung an. China ist Weltmacht. Die Überlegenheit des Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus steht auf der Tagesordnung.

Das heißt erst 2050 ist das chinesische Jahrhundert wirklich angebrochen. Das ist aber keine schlechte Nachricht, denn ganz egal, ob man Xi Jinping glaubt oder nicht, die KP Chinas hat analog zu beiden 15-Jahres-Plänen ein originäres Interesse daran, dass in den nächsten 30 Jahren Frieden in der Welt besteht!

Feindbild China und militärische Aufrüstung im Westen

Doch erinnern wir uns wie die SU nieder gerüstet wurde. Das war nicht Hiroshima und Nagasaki allein, was die Sowjetunion veranlasste sich zu Lasten des Konsum auf das Wettrüsten einzulassen, Es gab noch 1960 konkrete Pläne amerikanischen Militärs für einen Angriff auf die sozialistischen Länder mit 3.200 nuklearen Sprengköpfe. Das war den Russen natürlich bekannt.

Wie damals reagierte USA und Nato auf den Friedenswillen des neuen Systemkonkurrenten wie man es von ihnen nicht anders kennt, nämlich mit der Kündigung des INF-Vertrages! Das bedeutete freie Hand für die Produktion und Stationierung von Atomwaffen mittlerer Reichweite. Die USA rüsten die Nachbarschaft Chinas auf und gehen ein Bündnis mit Indien, Australien und Japan ein. Militärische Kooperation und gemeinsame Manöver im Südchinesischen Meer sind der Inhalt.

Feindseligkeit und Einmischung in innere Angelegenheiten gegenüber Russland sind ein Teil dieser Destabilisierungspolitik. Sie zielt darauf in Russland eine den westlichen Interessen genehme Regierung an die Macht zu bringen, die sich dann zusammen mit EU und USA gegen China positionieren soll.

Dagegen steht der Sicherheitsdialog des französischen Präsidenten mit Russland für eine europäische Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok.

Die USA rüstet die U-Boote der Ohio-Klasse auf taktische Atomwaffen mit kleinerer Sprengkraft um. Damit will man Nuklearoperationen begrenzter Art durchführen können. Vorgeblicher Grund: Russland hat mit Kaliningrad, ehemals Königsberg, eine Enklave zwischen Polen und Litauen, den einzigen eisfreien nördlichen Hafen Russlands. Nach der Wiedereingliederung der Krim wird unterstellt, dass Russland eine Landbrücke nach Kaliningrad errichten wolle. Dabei wird Russland der Einsatz von kleinen taktischen Atomwaffen unterstellt, die sie gar nicht haben. Mit diesen nicht vorhandenen Waffen solle der Westen vor die Wahl gestellt werden, entweder mit einem großen Atomschlag zu antworten, oder auf einen Gegenschlag zu verzichten. Und deshalb muss man bei dieser Waffengattung vorsichtshalber schon mal voranschreiten. Wahnsinn!

Russland hat schon reagiert und signalisiert, sie werden ein erneutes Wettrüsten nicht mitmachen, und auf einen Angriff mit Atomraketen unabhängig von der Größe reagieren.

Wolfram Elsner spricht in seinem Buch von einem unüberwindbaren Defensiv-Verteidigungsbündnis von China und Russland gegenüber den USA. Auch deshalb sei ein direkter Militärschlag der US-Army unwahrscheinlich. Hoffen wir, er hat Recht. Ich vermute, die USA wird agieren wie schon so oft in der Geschichte: Konflikte schüren und nutzen. Mit großer Wahrscheinlichkeit sind die Dienste der USA in der Atommacht Indien schon dabei Konflikte mit China zu inszenieren.

Schon bei der Gründung der Volksrepublik China gab es Stimmen in der KP, die für einen Ausgleich mit den USA sprachen. Mao antwortete ihnen: „Es trifft zu, dass es in den USA Wissenschaft und Technik gibt, doch bedauerlicherweise befinden sich diese in den Händen der Kapitalisten, nicht in den Händen des Volkes, und sie werden dazu verwendet, im Inland das Volk auszubeuten und zu unterdrücken und im Ausland Aggressionen durchzuführen und Völker abzuschlachten.“

Auf China bezogen bedeutete das ein Technologieembargo der USA seit Staatsgründung. Allein die SU unterstützte die industrielle Entwicklung Chinas im ersten Fünfjahresplan. Nachdem es nach Stalins Tod in wechselnden Phasen zum Bruch mit der SU gekommen war, näherte sich China schon vor Deng Xiaopeng den USA an und entwickelte sich, mit Hilfe von Kapital aus den USA, Taiwan und Japan, langsam zur Werkbank des Westens.

Arrogant nahm man China nicht als Konkurrenten wahr. Man ging davon aus, mit Marktwirtschaft und ausländischem Kapital würde sich allmähliche auch der Überbau umwälzen. Was insofern nicht illusorisch war, weil mit einer kapitalistischen Produktionsweise natürlich auch kapitalistisches Bewusstsein entsteht. Es bestand die Annahme, dieses ließe sich konterrevolutionär gegen die KP richten. Das geschah deshalb nicht, weil die KP, anders als die in der SU, das politische Zepter nicht aus der Hand gab, wie Xi Jinping sagte, nicht zuließ, dass auf dem Stadtturm eine andere Fahne weht. Genau diesen Versuch des Westens hat China 1989 auf dem Tian‘anmen Platz unterbunden. Wobei es auf dem Platz selbst keine Todesopfer gab, und jenseits davon mehr Opfer bei den Soldaten der Roten Armee als bei den Studenten. Nichtsdestotrotz findet sich bei Google unter Tian‘anmen ganz oben die Verbindung Tian’anmen-Massaker. Neben diesem „Bis hierher und nicht weiter!“ zum Systemwechsel-Versuch modifizierte man den Charakter der Planwirtschaft dahingehend, dass sie den Markt makroökonomisch lenkte, d.h. sie ließ den Markt gewähren, griff aber schnell und effektiv ein, wenn die Wirtschaft aus dem Ruder des Primats der Politik lief. Man könnte auch sagen, der Staat zog sich als Arbeitgeber aus der Schusslinie des Klassenkampfs zurück.

Kritische Stimmen gegenüber China von links

Eine kritische Stimme von links kritisiert die Umstrukturierung großer Staatsunternehmen, die ca. 1995 begann. Die Regierung stand vor dem Dilemma, dass die Staatsunternehmen höhere Löhne zahlen mussten als Private, außerdem die Renten ehemaliger Beschäftigter. Die Zentralregierung erlaubte, dass Staatsunternehmen pleitegehen können. Aber auch gesunde Unternehmen wurden an das bisherige Management verkauft. Die Kritik lautet: Die Marktreformen konnten nur deshalb erfolgreich sein, weil Errungenschaften des sozialistischen Aufbaus an neue Kapitalisten verkauft wurden.

Von Linken ist gelegentlich zu hören, China sei nicht sozialistisch, sondern staatsmonopolistisch. Damit bezeichnen wir die Verschmelzung von parlamentarisch-bürgerlichen imperialistischen Staaten mit dem Monopol- und Finanzkapital in einer Marktwirtschaft. Das trifft aber auf China nicht zu, denn das Kapital hat keine politische Macht! Der Westen wirft China vor, es betreibe Staatssubventionismus zugunsten stattlicher und privater chinesischer Firmen, zum Wettbewerbsnachteil amerikanischen und europäischen Kapitals. Der passende Begriff für Chinas Wirtschaften wäre: „Staatskontrolliertes Wirtschaften in einer Übergangsgesellschaft zum Sozialismus“.

Das chinesische Modell übertragen auf Deutschland

Wenn man das Wirtschaften in China, übertragen auf die Bundesrepublik, verstehen will, muss man sich die BRD anders vorstellen als sie ist:

Die Schlüsselindustrien der Bundesrepublik wären weitgehend verstaatlicht, dennoch ständen sie prinzipiell im Wettbewerb mit dem Sektor der kapitalistischen inländischen vom Staat kontrollierten Firmen. Der Staat führt das Wirtschaften an einem langen Zügel, greift aber schnell, konsequent, gegebenenfalls auch rigoros ein, wenn das gesamtgesellschaftliche Ziel von einzelnen Kapitalien, egal ob Privaten oder Öffentlichen, gefährdet ist. Patente sind gegen Lizenzgebühr bei Bedarf grundsätzlich frei zu geben. Schon gar nicht verschwinden sie im Tresor, um innovative Entwicklungen für die Gesellschaft zu verhindern. Das Gesamtgesellschaftliche Ziel wäre mittelfristig: Frieden zwischen den Völkern, das Abwenden der Klimakatastrophe, Kollektivierung von Grund und Boden, Verstaatlichung des libertären Finanzsystems und der Schlüsselindustrien, langfristig eine Umverteilung von oben nach unten zum Zwecke sozialer Gerechtigkeit.

Eine zu klärende Frage wäre, ob man die Preise dem Markt überlässt oder als Staat in die Preise eingreift. Die DDR subventionierte die Güter des täglichen Bedarfs, hatte andererseits ein Amt, das die Preise mit den weltweiten Preisen verglich und an die Politik berichtete. China hat meines Wissens bei Lebensmitteln-Preisen nur regulierend eingegriffen, wenn sie auf dem Markt aus dem Ruder liefen, hielt sich aber ansonsten aus der Preisgestaltung heraus. Hinzu käme eine Entmilitarisierung der BRD. Was man China natürlich nicht raten kann. Es gibt sicher Kapitalien, die sich vorstellen könnten, das erfolgreiche China nachzuahmen, aber davor zurückschrecken, wenn ihnen klar wird, ohne eine kommunistische politische Führung ist das nicht zu haben.

Das Gedankenspiel setzte natürlich entsprechende stabile Mehrheitsverhältnisse voraus. Das kann im Parlamentarismus entstehen, aber parlamentarisch vielleicht nicht zu verteidigen sein. Erfolgsversprechender scheint eine große Bürgerinitiative, die die Menschheitsfragen Frieden und Natur-Klimaschutz zusammenführt in eine gemeinsame Bewegung für ein geplantes Wirtschaften weg vom grenzenlosen Wachstum. Die Form des Wirtschaftens ist im Grundgesetz nicht festgeschrieben. Mit entsprechender Mehrheit könnte man sogar eine den Kapitalien übergeordnete staatliche Lenkung ins Grundgesetz aufnehmen.

Der Vorwurf vom Überwachungsstaat

Die angebliche totale Überwachung der Bürger Chinas mit einem Überwachungssystem mit Gesichtserkennung gibt es schlicht nicht. Jedenfalls nicht in China. Was es gibt ist ein „Social credit score System“, an dem die Menschen freiwillig teilnehmen. Verbindlich dagegen sind Sozialkreditsysteme für Unternehmen und Behörden. Zum System für die Bürger werden Daten auf die gleiche Weise erhoben wie bei uns heute von Schufa, Facebook, Google, Amazon & Co. Jeder teilnehmende Bürger hat einen Basis- Punktestand von 1000, den er auf maximal 1300 erhöhen kann, oder auf 600 Punkte absinken kann. Pluspunkte gibt es für wohltätige Arbeit, Pflege von älteren Menschen, positiven Einfluss auf Nachbarn und anderes. In den Keller geht es, wenn man bei Rot über die Ampel geht, betrunken Auto fährt oder seine Eltern nicht regelmäßig besucht. Vorteile sind z.B. ein schnellerer Zugang zu Konsumkrediten, die Nachteile bestehen darin, dass man keine Vorteile hat. Wenn man liest: Bürgern wurden Flugreisen verweigert, ein Visa verweigert oder erschwert hängt das meist mit dem Internet zusammen, aber nicht mit dem Sozialkreditsystem. Wer sich davon überzeugen will, dass die Chinesen alles andere als Duckmäuser sind, kann das auf Blogs und Chats auf Sina Weibo, WeChat u.a. mit einem Übersetzungsprogramm überprüfen Die Chinesen gehen mit Kritik an Regierung und Partei nicht eben sparsam oder rücksichtsvoll um.

Eine viel größere Rolle als Überwachung durch den Staat spielt die Anknüpfung an traditionelle soziale Strukturen. Was früher das Dorf war, und heute noch ist, übernahmen die Kommunisten für die Städte als Arbeitseinheitssystem, chinesisch Danwei. Zentral war die Verbindung von Wohnen und Arbeit oder Studium. Die Danwei übernahm die Altersversorgung, die Wohnungsbeschaffung, medizinische Versorgung, Kinderbetreuung usw. Dieses System wurde allmählich abgelöst vom shéqū System. Das bedeutet so viel wie Sozialraum der Gemeinde. Einwohnerkomitees von bis zu zehn Leuten sind innerhalb eines Wohnbereiches für 5-600 Menschen zuständig und leisten das gleiche wie früher die Danwei. Das kam den Erfolgen Chinas bei der Bekämpfung der Pandemie zu Gute.

Der eigentliche Grund der Verlagerung vom Bereich Arbeit auf den Bereich Wohnen hängt einerseits mit der Privatisierung der Wirtschaft zusammen, aber auch damit, dass der ökologische Umbau der Gesellschaft mittlerweile einen höheren Stellenwert hat als die bereits erfolgreich entwickelte Produktivität der Arbeit. Historisch-materialistisch betrachtet geht die Entwicklung der Produktivität der Entwicklung des Überbaus voraus. So für Europa abzulesen an der nachholenden Revolte der Studenten und Auszubildenden in den siebziger Jahren auf der Basis entwickelter Produktivkräfte. Die Kulturrevolution in China versuchte wenig früher den Überbau, aus alten Denkweisen, alten Kulturen, alten Gewohnheiten und alten Sitten, mit dem Ziel eine Steigerung der Produktivität zu erreichen. Heute ist China wirtschaftlich eher in der Situation des damaligen wirtschaftlich dynamischen Europas und will notwendige Überbauveränderung nicht dem Zufall überlassen, denn der ist meist imperialistisch und destruktiv. Es stimmt also, die KP versucht das Verhalten der Menschen zu lenken, und das gelingt ihr auch.

Anders als linke Reformer meinen, wird die gesellschaftlichen Entwicklung für die nächsten zwanzig Jahre nicht mit der Bundestagswahl determiniert, sondern in den vier Jahren danach im Klassenkampf entschieden. Es bleibt die Hoffnung, dass unsere Partei darin eine bedeutende Rolle übernimmt. Das beginnt, um sprachlich im Kontext zu bleiben, mit einer innerparteilichen Kulturrevolution. Gesellschaftlich kann das Projekt erfolgreich sein, weil die ökonomischen Voraussetzungen, also die notwendige Entwicklung der Produktivkräfte in der BRD, bereits gegeben sind. Gehen wir diese Aufgabe nicht an, sollen wir uns nicht beschweren, wenn der deutsche Kapitalismus auf einem möglichen Weg der Nachahmung Chinas sein Heil (im apostrophierten Sinne) bei den Rechten sucht.

Heinz-Dieter Lechte
5. März 2021

Quellen:
Wolfram Elsner, Das chinesische Jahrhundert. Westend-Verlag.
Marxistische Blätter: China, Vietnam, Cuba, Chile…Wege des Sozialismus
Luxemburg 02/20 Gegenhalten. Weh-tu-Frage.

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