Die Zukunft der Weltordnung – unipolare versus multipolare Weltordnung

Unsere öffentliche Diskussionsrunde am 6. Januar 2023 stand unter dem Titel „Die Zukunft der Weltordnung – unipolare versus multipolare Weltordnung“. Die einführenden Inputs von Heinz-Dieter Lechte und Uli Ludwig stützen sich auf längere Ausarbeitungen von Peter Wahl und von Birgit Mahnkopf.

Hier dokumentieren wir die beiden Inputs, die uns einen spannenden Abend bereiteten.

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I. TEIL VON HEINZ-DIETER LECHTE

Peter Wahl sieht seinen Text (veröffentlicht unter anderem in den Marxistischen Blättern) als ein Hintergrundpapier, welches das Einzelne in seinen strukturellen und historischen Kontext des Ganzen stellt.

Er sagt, das sei eigentlich die Basis für jedes aufgeklärte Denken. Aber in der gegenwärtigen Debattenlage um den Ukraine-Krieg sei eines der markantesten Phänomene, dass bis in Teile der gesellschaftlichen Linken hinein das einzelne Ereignis von seinem historischen und strukturellen Kontext abgetrennt und zum singulären Ereignis und moralischen Absolutum gemacht wird das nicht mehr diskutiert werden darf.

Die maßgeblichen Politiker in den maßgeblichen Ländern denken und handeln in machtpolitischen Kategorien und nicht nach den Leitbildern der Friedensbewegung. Wenn man diese traurige Realität verändern will, muss man wissen wie sie funktioniert. Dafür sind Sachliches und Emotion auseinanderzuhalten. Gerade wenn man Empathie mit den Opfern hat, sollte man nicht den Verstand ausschalten. Moralisch ist wer und was zur Erhaltung des Friedens beiträgt. Und wenn dennoch Krieg ist, ist moralisch alles, was ihn so schnell wie möglich beendet.

Zur Struktur und Dynamik des internationalen Systems

Erstens: Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass kein Staat für sich allein existiert, sondern immer nur in Wechselbeziehung zu anderen, zu Nachbarn, Rivalen, Gleichgesinnten usw. Dementsprechend entsteht sein außenpolitisches Verhalten nicht nur aus seinen inneren Verhältnissen, sondern auch aus der Dynamik des Systems, in dem er ein Element ist. Es gibt eine systemische Logik, die Pfadabhängigkeiten konstituiert. Das heißt nicht, dass dieses System ein mechanisch ablaufendes Uhrwerk wäre. Als von Menschen gemacht, erlaubt es immer verschiedene Handlungsmöglichkeiten. Zum Beispiel indem man machtpolitische Konfrontation durch friedensorientierte Kooperation ersetzt.

Zweitens: Es gibt keinen Weltstaat. Das unterscheidet das internationale System grundlegend vom Binnensystem der Staaten. Moderne Staatlichkeit weist durch Verfassungen, Rechtssystem, politisches System etc. eine hohe Regelungsdichte auf, die die Machtverhältnisse und Konflikte der Gesellschaft in geordneten Bahnen halten und moderieren sollen.

Demgegenüber ähneln die zwischenstaatlichen Beziehungen eher dem, was die politische Theorie als „gesellschaftlichen Naturzustand“ beschreibt, der weitaus weniger geordnete, sondern tendenziell anarchische Züge aufweist. Regulierende Staatlichkeit existiert hier nur in Ansätzen als Völkerrecht, zwischenstaatliche Verträge und internationale Institutionen. Vor allem existiert keine legitimierte oberste Instanz, wie ein Verfassungsgericht und eine Exekutive, die dessen Entscheidungen umsetzt. Der UN-Sicherheitsrat, der das tendenziell können soll, ist durch das Veto-System blockiert, wenn Veto-Mächte an Konflikten beteiligt sind.

Drittens: Auch wenn völkerrechtlich alle den gleichen Status, haben und nominal über völkerrechtliche Souveränität verfügen, sind die Elemente des Systems nicht gleich. Das System ist hierarchisch. Wer an der Spitze steht, hat prägenden Einfluss. Je weiter es nach unten geht, umso geringer sind Handlungsspielräume und Einfluss.

Viertens: Die Position in der Hierarchie hängt von den Machtressourcen ab, über die ein Land verfügt.

Fünftens: Aufgrund all dieser Faktoren sind das zentrale Regulationsprinzip im internationalen System die machtpolitischen Kräfteverhältnisse. Eine Großmacht will möglichst keine normativen Bindungen eingehen, die ihre machtpolitischen Handlungsspielräume einengen könnten. Die USA sind auch hier globale Führungsmacht.

Im Epizentrum: unipolare versus multipolare Weltordnung

Für etwa anderthalb Jahrzehnte nach Ende der UdSSR war das System unipolar, d.h. die USA waren unangefochten einzige Supermacht. Inzwischen geht die unipolare Weltordnung zu Ende. An ihre Stelle tritt ein multipolares System. In dessen Zentrum steht die Rivalität zwischen den USA und China. Gleichzeitig gibt es ein Comeback von Russland als Großmacht.

Der Umbruch bedeutet eine Entwestlichung der Welt und das Ende der 500-jährigen euro- atlantischen Überlegenheit.

Joe Biden sagt aber: „Ich will dafür sorgen, dass Amerika wieder die Welt führt,“ weil „keine andere Nation die Fähigkeit dazu hat.“

Xi Jinping sagt: „Wir dürfen die Regeln nicht durch ein oder einige wenige Länder festlegen lassen, die sie den anderen aufzwingen oder Unilateralismus von gewissen Ländern zulassen, die der ganzen Welt die Richtung vorgeben wollen.“

Das strategische Ziel der chinesischen und russischen Außenpolitik ist ausdrücklich eine multipolare Weltordnung, wie bereits 2009 beim BRICS-Gipfel in Jekaterinburg formuliert: „Wir wollen eine demokratischere und gerechte multipolare Welt auf der Grundlage des Völkerrechts, der Gleichheit, des gegenseitigen Respekts, der Zusammenarbeit, des gemeinsamen Handelns und kollektiver Entscheidungen aller Staaten.“

Umbrüche in der Hegemonialordnung der Welt sind gefährlich. Eine Harvard-Studie hat zwanzig solcher Fälle durch die Geschichte der letzten 2000 Jahre hindurch untersucht. In sechzehn kam es demnach zum Krieg. Die etablierten Mächte wollen den Status Quo erhalten, die aufsteigenden wollen ihn verändern. Das führt zu einem enormen Anstieg von Rivalität und Konflikt. Ein Beispiel, das uns noch relativ nahe ist, ist der Erste Weltkrieg, der ebenfalls aus Umbrüchen der Hegemonialordnung resultierte.

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Nun ein Blick auf die Klimakrise bzw. die Krise des kapitalistischen Wirtschaftens. Es ist die Krise des grenzenlosen Wachstums, bestimmt von einer Minderheit, die über den Besitz an den Produktionsmitteln bestimmt, was unter welchen Bedingungen produziert wird, wie und unter welchen Bedingungen die Waren und Dienstleistungen verteilt werden, und welche Rohstoffe dafür wie und unter welchen Bedingungen eingesetzt werden, darin die Ausbeutung der Natur mit den klimatischen Folgen bis zur Unumkehrbarkeit.

Dieses an Lohnarbeit gekoppelte System prellt nicht nur die Lohnabhängigen um den Mehrwert, sondern bindet Lohnempfänger und Konsumenten an widersinnige Produkte, bindet damit menschliches Potential, geistig und zeitlich, welches wir dringend brauchen, um in die Hände zu spucken, damit wir diesen Irrsinn beenden.

Wären wir im Jahre 1972, das ist das Jahr in dem der Club of Rome seine Studie zu den Grenzen des Wachstums veröffentlichte, könnte wir uns dieser Aufgabe in aller Ruhe widmen. Doch inzwischen sind 50 Jahre ohne Konsequenzen vergangen.

Professorin Birgit Mahnkopf fasst das Ergebnis in einem Satz zusammen: Der Klimawandel ist nicht mehr beherrschbar!

Sie sagt, die geopolitischen Konflikte der Gegenwart zielen auf die Landmasse Asien-Europa. Die USA haben, anders als die VR China, keinen direkten Zugang zu dieser Landmasse und fühlen sich bedroht. Birgit Mahnkopf nennt die Landmasse die Weltinsel – mit den größten Ressourcen und Reserven an fossilen Rohstoffen, Mineralien etc.

Schon lange lautet das Credo der USA, keine Macht dürfe die Fähigkeit erlangen die USA aus Eurasien zu vertreiben.

Die fossilen Brennstoffe mit ihrer Energiedichte bleiben beim Festhalten am grenzenlosen Wachstum der letzten 250 Jahre unverzichtbar.

Weil im Konkurrenzkampf mit China die Energie eine Schlüsseltolle spiele, wird China zwar als Hauptgegner gesehen, Russland als Energielieferant aber gleichermaßen ins Visier genommen und Europa, besonders Deutschland, als wirtschaftliche Konkurrenten argwöhnisch beäugt.

Was aktuell abläuft kann man nur als Kriegserklärung an die Bio-physischen Systeme der Erde bezeichnen. Die geopolitische Dominanz der USA ist gefestigt. Russland wird langfristig geschwächt sein und sich gegenüber China in einer untergeordneten Stellung befinden. Sie sagt, kippt das Klima bis zur Unbewohnbarkeit, werden aber auch die Chinesen betroffen sein. Wohin sollen sie gehen? Ihre lakonische Antwort: Sibirien!

Es wird Massen-Bewegungen geben, die man nur noch mit der Völkerwanderung vergleichen kann.

Besonders traurig sei das Bild, das Europa abgibt. dabei befindet sich Europa eigentlich in einer vergleichsweise vorteilhaften Lage: platziert in mittleren Breiten mit einer hohen Diversität an Produktions-, Wissens- und Technologiestrukturen und einem noch immer dichten Netz von sozialen Infrastrukturen, mit relativ gebildeter Bevölkerung. Und wichtiger noch das Wissen um eine lange Geschichte von schrecklichen Kriegen zwischen seinen Bewohnern. Es sollte den Europäern leichter fallen als anderen den steinigen Weg in eine noch lebenswerte Zukunft zu wählen. Langfristig müsste der Rohstoffverbrauch auf die 1950iger Jahre zurückgehen. Durch eine andere Sicht auf Zivilisation sei nicht automatisch eine zivilisatorische Rückentwicklung verbunden.

II. TEIL VON ULI LUDWIG

Führungsmacht USA:

Für die politischen Umstände, die dem Ukrainekrieg zugrunde liegen, ist vor allem der erklärte Willen der USA entscheidend, ihre globale Vormachtstellung um jeden Preis zu erhalten. Alle ihre Handlungen sind dem Hauptziel untergeordnet, den weiteren Aufstieg Chinas zu stoppen und Russland einzuhegen.

Der Anspruch auf eine unipolare Weltordnung klingt in einem Leitfaden zur Verteidigungsplanung der USA so: „Jede in Frage kommende Macht [ist] daran zu hindern, in einer Region dominant zu werden, die für unsere Interessen von ausschlaggebender Bedeutung ist. […] Potentielle Rivalen [sollen] erst gar nicht auf die Idee kommen, regional oder global eine größere Rolle spielen zu wollen. […] Wir müssen darauf achten, dass es keine auf Europa zentrierten Sicherheitsvereinbarungen gibt, welche die NATO untergraben könnten.“ Zusammengefasst ergibt sich folgende Zielsetzung, die bereits 1949 sehr griffig von Lord Ismay, dem ersten Generalsekretär der NATO geprägt wurde: „Keep the Russians out, the Americans in, and the Germans down“.

Neben dem erklärten Willen ergibt sich die tatsächliche Position in der Pyramide der hierarchischen Weltordnung vor allem aus den Machtressourcen des jeweiligen Akteurs. Die USA verfügen über das mit Abstand stärkste Militär, je nach Zählweise über 120 Militärstützpunkte auf allen Kontinenten, sowie mit der NATO über ein Militärbündnis auf das 55% der globalen Rüstungsausgaben entfallen. Hinzu kommen ihre globalen Überwachungs- und Beeinflussungsmöglichkeiten im Cyberspace und ihre geographische Lage als Kontinent – praktisch eine Insellage. Zur Illustration: Der Kriegsschauplatz Ukraine liegt 8000 km entfernt.

Ähnlich sieht es mit ihrem ökonomischen Potential aus. Vor allem die Rolle des Dollars als Weltwährung und der Zugriff auf die globale Finanzinfrastruktur, wie SWIFT, das Kreditkartensystem usw. geben den USA einen unvergleichlichen extraterritorialen Einfluss. So kann die US-Regierung Unternehmen anderer Länder den Zugang zu ihrem Markt, zur Weltwährung und zur globalen Finanzinfrastruktur verwehren, wenn diese beispielsweise gegen das US-Embargo weiter Geschäfte mit dem Iran machen wollen. Ob als Vetomacht in der UNO oder wegen ihrer Sperrminorität in IWF und Weltbank – durch ihre politische Vernetzung haben sie die Machtmittel, in großen Teilen der Welt ihre Interessen durchzusetzen.

Kulturell üben sie im Bereich der Soft-Power durch ihre Kulturindustrie (Hollywood, Popkultur, kommerzielle Infrastruktur) einen großen Einfluss auf die gesellschaftlich wirksamen Erzählungen aus.

Insgesamt verfügen die USA noch über eine Bandbreite an Handlungsoptionen, wie sonst kein anderes Land auf der Welt.

Die aufsteigenden Mächte China und Russland

Beiden gemeinsam ist das Problem der militärischen Einschnürung. Damit ist im Falle Chinas gemeint, dass sich an seiner Seegrenze eine Kette aus US-Verbündeten und US-Militärstützpunkten befindet: Die Kette beginnt im Norden mit Japan und setzt sich fort mit Südkorea, Taiwan, Guam bis Australien. Sie wird ergänzt durch die pazifischen Stützpunkte des NATO-Partners Frankreich bis nach Singapur. Hinzu kommen die schwimmenden Stützpunkte in Form von der US-Flotte mit ihren Flugzeugträgern, die regelmäßig im chinesischen Meer kreuzen und den harten Kern des Konfliktes um die Inseln und Atolle im südchinesischen Meer bilden.

Für Russland ist es die direkte Grenze mit der NATO in Estland und Lettland, sowie durch die Exklave Kaliningrad mit Polen und Litauen, sowie 200 km mit Norwegen und der Nordpolarregion, die das große Sicherheitsrisiko bildet. Hinzu folgen jetzt Schweden und vor allem Finnland als neue NATO-Mitglieder. Von Estland aus ist die 100 km entfernte Metropole St. Petersburg schon mit Raketenartillerie erreichbar. Die Vorwarnzeit für einen Enthauptungsschlag gegen Moskau würde auf fünf Minuten schrumpfen und ein enormes Erpressungspotential entstehen lassen. Hier liegt der Kern der russischen Bedrohungswahrnehmung.

Seit geraumer Zeit ist auch eine Annäherung zwischen Russland und China im Gange, die den Charakter einer strategischen Partnerschaft angenommen hat. Dieser Prozess ist im Verlauf des Ukrainekrieges beschleunigt worden. Russland bringt neben seinen Spitzentechnologien in Raumfahrt und Rüstung noch seinen Großmachtstatus als ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat ein. China ist in Asien, im pazifischen Raum, Afrika und Lateinamerika ökonomisch immer stärker vernetzt und baut mit seinem Seidenstraßenprojekt eine ökonomisch-infrastrukturelle Verbindung zu Europa aus. Kooperationsprojekte wie ASEAN (Verband Südostasiatischer Nationen) und APEC (Asiatisch-Pazifische Wirtschaftsgemeinschaft) für den Ausbau von Freihandelszonen und seit 2022 RCEP (Regional Comprehensive Economic Partnership) als die größte Freihandelszone der Welt, sind Ausdruck einer enormen ökonomischen Dynamik. Die friedliche Modernisierung eines ständig wachsenden Raumes und eine Globalisierung 2.0 werden absehbar den Dollar als Weltwährung ablösen. Alle Versuche der USA, einen Keil in diese Partnerschaft zu treiben, waren bislang vergeblich und US-amerikanische Strategen weisen immer nachdrücklicher daraufhin, dass das Zeitfenster sich bald schließen könnte, in dem die Vereinigten Staaten und ihre Alliierten den eurasischen Integrationsprozess und die Absetzung der USA als größte Wirtschaftsmacht noch mit militärischen Mitteln verhindern könnte.

Russland ist zwar ökonomisch den weitaus dynamischeren USA ebenso wie China weit unterlegen und liegt in seinem BIP, in Kaufkraftparitäten gemessen, hinter Deutschland und vor Frankreich und Großbritannien. Dafür aber ist sein enormer Rohstoffreichtum, vor allem an Erdöl, Gas und Metallen, ein wichtiger Ausgleich. Rohstoffe, die für die ökologische Wende gebraucht werden, darunter Kobalt, Kupfer und seltene Erden, von denen große Mengen in sibirischem Boden liegen. Russland verfügt zudem über die mit Abstand weltweit größten nutzbaren Windkraftkapazitäten und ist heute der weltweit größte Weizenexporteur.

Die EU und ihre Machtressourcen

Es ist schon seit geraumer Zeit das Ziel der EU, im Club der Weltmächte einen Platz zu ergattern. Militärisch wurde dazu die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit PESCO verstärkt, um gemeinsame Rüstungsprojekte wie ein Kampfflugzeug der neuen Generation und ein Panzer in deutsch-französischer Kooperation zu realisieren. Dass wenig davon umgesetzt wird, hat vor allem seinen Grund darin, dass die EU ein Hybrid ist, also eine Allianz von Nationalstaaten mit Elementen übernationaler Staatlichkeit. Die Handlungsfähigkeit dieses Gebildes ist der eines großen Nationalstaates weit unterlegen und es wirkt nicht so, als ob dieses Stadium so schnell überwunden werden könnte.

Eine strategische Autonomie ist nicht in Sicht. Vielmehr ist die Eingliederung der EU als subalterner Juniorpartner in das Lager der USA im Rahmen der unipolaren Weltordnung erfolgt. Lord Ismays eingangs erwähnte Devise war damit in Realpolitik umgewandelt worden. Diese Politik wird am Beispiel der Ukraine besonders gut erkennbar.

Die Ukraine

Die Ukraine gehört zu den nach Ende des 1. Weltkrieges neu entstandenen Staaten. Er sah sich zwar in der Tradition des großen Kiewer Rus, wurde aber im Januar 1919 als Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik ausgerufen.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion Ende letzten Jahrhunderts kam es an den Rändern des Riesenlandes zu konfliktreichen Verhältnissen. Russische Bevölkerungsgruppen waren plötzlich Minderheiten in einem anderen Land und wurden diskriminierenden Bedingungen ausgesetzt. Besonders dramatisch verlief die Entwicklung in der Ukraine. Die gesellschaftlichen Gegensätze waren durch die Vorherrschaft kleptokratischer Eliten sehr stark einerseits und die Tendenz zu einem starken Nationalismus war andererseits besonders aggressiv. Hinzu kamen starke Gegensätze zwischen den östlichen und westlichen Landesteilen. Eine außerparlamentarische Bürgerrechtsbewegung – der „Maidan“ – konnte schließlich in der Opposition gegen Korruption und Oligarchenherrschaft 2013 die Führung übernehmen. Mit starker Unterstützung vor allem durch die USA konnten sich in ihr rechtsextreme Kräfte durchsetzen und den lavierenden Präsidenten Janukowitsch 2014 in einem Putsch absetzen. Versuche der EU, eine vernünftige Lösung unter Beteiligung der französischen und deutschen Außenminister, nämlich Neuwahlen binnen einiger Monate später, wurden durch diesen Umsturz zunichte gemacht. Dennoch erkannte der Westen das neue Regime in Kiew sofort an. Auf den EU-Assoziierungsvertrag und der Kappung unzähliger historisch gewachsener Verbindungen zwischen Russland und der Ukraine folgte das Unabhängigkeitsreferendum auf der Krim unter russischer Einflussnahme und ein niedrigschwelliger Krieg zwischen den nach Autonomie strebenden Donbass-Republiken und Kiew. Stets offen oder im Hintergrund übten die USA einen starken Einfluss auf die Politik in Kiew aus, und die Ukraine wurde faktisch an die NATO gebunden – eine Politik, die seit Beginn der Konflikte von Russland als das Überschreiten einer roten Linie bezeichnet wurde.

Der völkerrechtswidrige Einmarsch Russlands beschäftigt uns bald schon ein Jahr und wir alle kennen die Details. Hier soll es abschließend um die Entwicklung der Weltordnung gehen. In der ukrainischen Eskalationsgeschichte treffen die beiden großen Konfliktlinien aufeinander. Auf der einen Seite fand die Eskalation des Konfliktes des postsowjetischen Verhältnisses Russland-Ukraine statt. Mit dem Ausbau der Ukraine zum Außenposten der NATO wurden gleichzeitig die übergeordneten geopolitischen Ziele der Eindämmung Russlands und der Blockierung der Kooperation zwischen BRD/EU und Russland verfolgt. Damit hatte auch der geopolitische Konflikt „Multipolare Weltordnung vs. US-Hegemonie“ die Bühne betreten.

Nur wenn die beiden Konfliktebenen berücksichtig werden, ist ein dauerhafter Frieden denkbar. Im einem isolierten Konflikt zwischen Russland und der Ukraine wären in verschiedenen Stadien der Entwicklung Kompromisslösungen wie in Minsk II möglich gewesen. In der Frage der Eindämmung Russlands und der dauerhaften Trennung der EU von Russland gibt es aber keinen mittleren Weg. Russland wird immer ein Teil Europas bleiben.

Als eine Lösung im Interesse der Menschen in der Ukraine ist nur ein Friedensmodell denkbar, also die Einrichtung eines multipolaren internationalen Systems mit einer souveränen EU, mit Kooperation, vertrauensbildenden Maßnahmen, Rüstungskontrollabkommen, Verzicht auf Angriffswaffen in Ländern, die an Atommächte angrenzen und Verträgen über gegenseitige Sicherheit.

Ein Sieg-Frieden im Rahmen einer Weltordnung der unipolaren US-Hegemonie ist dagegen ohne dauerhafte Verarmung Europas, ohne unvorstellbares Leiden von Millionen von Menschen in Russland und Ukraine und ohne die unmittelbare Gefahr eines dritten Weltkrieges nicht möglich.